"Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen"

Worum geht es?

In einem neunseitigen Positionspapier PDF-Dokument rund um Ralf Lankau fordern 40 Wissenschaftler:innen Ende November 2023 ein "Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen". Da dieses Positionspapier derzeit von einigen Massenmedien (u.a. FAZ, heise.de, bild.de) und in den sozialen Medien aufgenommen und diskutiert wird, lohnt es sich, auf einige problematische Aspekte des Papiers hinzuweisen.

1. Allgemeine Kritik

Das Positionspapier ist so pauschal und teilweise chaotisch, dass eine seriöse Diskussion schwerfällt. Bereits die Forderung eines "Moratoriums der Digitalisierung von Schulen und KITAs" (alles was mit Digitalisierung zu tun hat, alle Altersstufen von Kindertagesstätte bis Gymnasium) scheint eher die mediale Aufmerksamkeit als eine seriöse Auseinandersetzung mit der Thematik fördern zu wollen. Im Papier werden verschiedenste Aspekte krud gemischt, Quellen selektiv und teilweise falsch zitiert und es werden mehrfach Strohmann-Argumente bekämpft.

Nach Jahrzehnten der Diskussion und der Forschung zu "Digitalisierung und Bildung" ist dieses Positionspapier eine Beleidigung für seriöse Debatten und in keiner Art und Weise geeignet, die Diskussion weiterzubringen. Ja, wir müssen Fragen der Digitalisierung und der Digitalität in der Schule kritisch betrachten, aber bitte seriös.

2. Pauschalisierungen

Das Positionspapier fordert "ein Moratorium der Digitalisierung von Schulen und KITAs" (Seite 8). Diese Forderung enthält zwei Pauschalisierungen:
  • Alle Altersstufen: Diese Forderung erstreckt sich teilweise vom Kindergarten bis zur Ende der Schulzeit. Im Positionspapier werden aber oft Quellen zitiert, die sich nur auf Kinder im Kindergarten oder der Primarstufe beziehen. (Auf Seite 1 ist von der "frühen Bildung bis zum Ende der Unterstufe (Kl. 6)." die Rede, was mindestens einer gewissen Einschränkung entspricht, aber dafür interne Inkonsistenzen innerhalb des Papiers zeigt).
  • Digitalisierung: Der Begriff Digitalisierung ist so pauschal wie Oralität (Mündlichkeit) oder Literalität (Schriftlichkeit) und eignet sich schlecht für differenzierte Betrachtungen. Insbesondere werden im Positionspapier Computer, Smartphones, künstliche Intelligenz oder gar "selbstgesteuertes Lernen" als Synonyme für "Digitalisierung" verwendet.

3. Falschaussagen

Das Positionspapier gibt mehrfach zitierte Quellen falsch wieder:

  • Handyverbot in Frankreich: Die Aussage, es gäbe in Frankreich seit 2018 ein "Komplettverbot internetfähiger Geräte wie Handys, Tablets und Smartwatches in allen Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten auch außerhalb des Schulgebäudes" ist nicht korrekt. Solche Geräte sind für pädagogische Zwecke zugelassen, wenn es die lokale Schule erlaubt. ( Quelle PDF-Dokument)
  • KI-Altersgrenze der UNESCO: Die Aussage "Den Umgang mit KI empfiehlt die UNESCO erst ab 13 Jahren" ist so nicht korrekt. Im entsprechenden Dokument Guidance for generative AI in education and research UNESCO wird empfohlen, eine Altersgrenze für unbeaufsichtigte Nutzung allgemeiner LLM-Werkzeuge festzulegen. Es geht also explizit um die unbeaufsichtigte Nutzung und allgemeine LLM-Tools. Die UNESCO macht keine Vorschläge zur Einschränkung der beaufsichtigten Nutzung von allgemeinen LLM-Systemen oder zur Nutzung von spezifisch für Kinder und Jugendlichen eingerichteten LLM-Systemen.
  • Studien zu heimischem Mediengebrauch werden mehrfach als Belege für Erkenntnisse zu schulischer Mediennutzung zitiert.

4. Selektives Zitieren

Das Positionspapier zitiert sehr selektiv:
  • Einerseits werden ausschliesslich Quellen zitiert, welche die Aussagen des Positionspapier stützen.
  • Andererseits werden aber auch den zitierten Quellen ausschliesslich die Herausforderungen digitaler Medien in der Schule zitiert, nicht aber die in den gleichen Quellen erwähnten Vorteile oder Potenziale. Es wird damit der falsche Eindruck erweckt, die zitierte Quelle würde ausschliesslich Nachteile im Einsatz digitaler Werkzeuge in der Schule sehen.

Beispiele für selektives Zitieren:
  • UNESCO-Bericht 2023: Der 435-seitige Bericht der UNESCO Technology in education: A Tool on whose Terms? zeichnet ausführlich Potenziale und Herausforderungen digitaler Medien auf. Das Positionspapier zitiert daraus ausschliesslich die Herausforderungen.

5. Falsche Schlüsse

Das Positionspapier zieht mehrfach falsche Schlüsse:

  • Chancengerechtigkeit: Die Aussage "Digitale Medien verstärken und fördern die Bildungsungerechtigkeit sowohl national wie international." (Seite 7) trifft zu, allerdings betrifft dies nicht die schulische, sondern die private Nutzung, wie das Positionspapier selbst: "Die digitale Kluft und die Ungleichheit bereits beim Zugang zu Bildungsangeboten vertiefen sich weltweit und sind mit dem familiären und sozialen Umfeld assoziiert (ICILS 2018)." Der sinnvolle Einsatz und die Thematisierung digitaler Medien in der Schule ist somit eine Massnahme zur Erhöhung der Chancengerechtigkeit.
  • Sinkendes Bildungsniveau: Die Aussage "Das Bildungsniveau sinkt seit Jahrzehnten, trotz stetig steigender Ausgaben für IT und deren Einsatz im Unterricht." (Seite 6) behauptet implizit, dass IT-Einsatz das Bildungsniveau erhöhen müsste - ausgerechnet eine Aussage, welche das Positionspapier in seinem ersten Satz anprangert. Dass die angedeutete Forderung, mit dieser Begründung weniger für IT auszugeben unsinnig ist, zeigt sich spätestens, wenn "IT-Ausgaben" durch "Löhne für Lehrkräfte" ersetzt wird: Niemand würde bei den Lehrkräften sparen wollen, weil das Bildungsniveau gesunken ist.

6. Strohmann-Argumente

Verschiedentlich werden im Positionspapier Aussagen oder Entwicklungen kritisiert, die so gar niemand machen würde - es handelt sich um typische Strohmann-Argumente ( Erklärung von Strohmann-Argumenten bei Wikipedia).

Zu den aufgestellten Strohmännern gehört:

6.1 Digitalisierung ist die Lösung für Bildungsfragen

Bereits der erste Satz des Positionspapiers baut einen Strohmann auf: "Digitalisierung gilt derzeit im Bildungsbereich für alle Altersstufen als zeitgemäße Lösung von Bildungsfragen." Wer behauptet wo, mit Hilfe von Digitalisierung "Bildungsfragen" beantworten zu können?

Siehe

6.2 Es findet gar kein Diskurs statt zur Digitalisierung in der Bildung

  • "Wir fordern [...] [den] Diskurs über die notwendigen pädagogischen Prämissen des Einsatzes digitaler Medien in Bildungseinrichtungen" (Seite 1)

Seit mindestens 30 Jahren wird intensiv zum Einsatz digitaler Medien in der Schule geforscht und diskutiert, es existieren mittlerweile ganze Bibliotheken voller Publikationen zu diesem Thema.

6.3 Computer sollen Lehrkräfte ersetzen

  • "Dazu kommen immer mehr Datenverarbeitungssysteme, die als „Künstliche Intelligenz“ (KI) automatisiert beschulen und testen sollen, um fehlende Lehrkräfte zu ersetzen." (Seite 1)
  • "Die Lehrkraft als den Unterricht strukturierende und leitende Person lässt sich durch kein Medium ersetzen" (Seite 7)

Für diese Aussagen werden keine Quellen angeführt. Wer fordert ernsthaft, dass man Lehrkräfte durch Computer ersetzen sollte?

Siehe auch

6.4 Kinder und Jugendliche brauchen ein menschliches Gegenüber

  • "Kinder und Jugendlichen brauchen ein menschliches Gegenüber" (Seite 8).

Absolut. Wer behauptet das Gegenteil?

Siehe auch

7. Erstunterzeichnende

Das Positionspapier trägt den Titel "Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen". Den Erstunterzeichnenden scheint also wichtig, dass sie in ihrer Rolle als Wissenschaftler:innen wahrgenommen werden. Es ist zu vermuten, dass sie damit ihrer Aussage besondere Autorität verleihen wollen. Insofern ist es gerechtfertigt, die fachlichen Hintergründe und sonstigen öffentlichen Äusserungen der Erstunterzeichnenden zu betrachten, ohne dass dies ein Angriff auf diese Personen oder als "ad hominem"-Argumente abgetan werden kann.

7.1 Bereits früher mit unwissenschaftlichen Argumenten aufgefallene Erstunterzeichnende

Unter den Erstunterzeichnenden des Positionspapier hat es mehrere Personen, die bereits früher durch unwissenschaftliche, tendenziöse oder polemische Aussagen und Publikationen aufgefallen sind. Dazu gehören:

8. Andere Kritik an diesem Positionspapier

Der Grundschulverband stellt sich entschieden gegen die kürzlich vorgebrachten Forderungen nach einem Moratorium der Digitalisierung in Bildungseinrichtungen, besonders in Kindertagesstätten und Grundschulen. Die Forderung, den Einsatz digitaler Medien bis zur 6. Klasse aus Gründen des Kinder- und Medienschutzes zu pausieren, verkennt laut dem Verband die entscheidende Rolle von Schulen und Kindertageseinrichtungen für die Förderung digitaler Kompetenzen in der heutigen und zukünftigen Bildungslandschaft.

9. Weiterführende Informationen

Kontakt

  • Beat Döbeli Honegger
  • Plattenstrasse 80
  • CH-8032 Zürich
  • E-mail: beat@doebe.li